Ein Artikel über die Ökologisierung der Politik
Durch den Tsunami an der ostjapanischen Küste starben weit über zehntausend Menschen. Ähnlich viele werden seitdem vermisst und sind wohl zum größten Teil auch der Naturkatastrophe zum Opfer gefallen. Etwa eine halbe Million Menschen floh aus dem verwüsteten Gebiet, etliche wurden verletzt und verloren ihr gesamtes Hab und Gut.
Video-Aufnahmen der furchterregenden Flutwelle, die Schiffe und Häuser wie Spielzeug mit sich riss, waren begehrt. Die Ursache von Tod und Leid konnte wissenschaftlich gut erklärt werden, die Medien präsentierten detailreiche Tsunami-Modelle. Doch der Sensationswert der Katastrophe war im Vergleich zum verheerenderen Tsunami im indischen Ozean 2004 geringer. Die Riesenwelle hatte einen kürzeren Streifen Küste überschwemmt. Schnell war absehbar, dass die Anzahl der Opfer keine neuen Rekorde aufstellen würde. Das Thema wäre innerhalb weniger Tage in Deutschland kaum noch Eilmeldungen wert gewesen.
Aber das Wasser überspülte auch das Gelände der sechs Atomreaktoren in Fukushima-Daiichi und zerstörte deren Stromversorgung und alle Reservesysteme. In der Folge fiel die auch außerhalb des regulären Betriebes permanent notwendige Kühlung der Brennelemente aus. Die enorme Hitze der anhaltenden Kernreaktionen, das sogenannte Nachbrennen, verdampfte verbliebenes Kühlwasser, die Atommeiler gerieten außer Kontrolle. Teilweise schmolzen die Brennstäbe und brannten Lecks in die Reaktorkerne, in gefährlichem Maß trat hoch radioaktives und giftiges Material aus. Arbeiter vor Ort waren und sind bedrohlichen Strahlungsdosen ausgesetzt, die Bevölkerung wurde schließlich aus einer großen Zone rund um die Atomanlagen evakuiert. Auch wenn sich die Lage inzwischen etwas beruhigt hat, bleiben die havarierten Reaktoren und die Kontamination vor Ort eine große Gefahr. Eine nennenswerte weltweite Ausbreitung radioaktiven Materials wird jedoch nicht mehr befürchtet.
Dem spektakulären Atom-Unglück maß man in Deutschland enorme Relevanz zu: Der erste Reaktorunfall, der gute Chancen hatte, den Super-GAU von Tschernobyl zu übertreffen! Über die radioaktive Verseuchung heimischer Fischregale wurde schneller spekuliert als Fisch überhaupt von Japan nach Europa geliefert werden kann. Gerüchte über filmreife Grusel-Szenarien für die Metropole Tokio schossen ins Kraut. Aktuelle Messwerte der radioaktiven Strahlung zu Lande, zu Wasser und in der Luft wurden in einem solchen Tempo vermeldet, dass garantiert keiner folgen konnte. Die Datenflut ließ niemanden vergessen, wo Gefahr und abwechslungsreiche Unterhaltung gerade zu finden waren. Wenn mal keine neuen Zahlen aus Japan vorlagen, wurden irrelevante Messwerte von irgendwo zu Kurzmeldungen verwurstet, die immer wieder darüber aufklärten, dass die gemessenen radioaktiven Spuren ihren Ursprung in Japan hätten, aber am Ort der Messung Gott sei Dank keinerlei Gefahr bedeuteten.
In Deutschland entwickelte sich eine politische Kettenreaktion. Direkt am Tag nach der Katastrophe erhielt eine schon länger geplante Anti-Atom-Demonstration soviel Zulauf, dass sie »eine 45 Kilometer lange, komplett geschlossene Menschenkette vom AKW Neckarwestheim nach Stuttgart bilden konnte«. Die dokumentierende Bildersammlung auf der Mobilisierungs-Website zeigt lauter lachende Menschen in kreativen Kostümen. Sie halten ironische Demo-Transparente oder bunte Luftballons hoch, tanzen ausgelassen Hand in Hand und blasen fröhlich auf Tröten. Die Teilnehmer konnten ihr Glück offenbar kaum fassen — ein eindeutiger Fingerzeig der Natur hatte sie in ihrer innersten Überzeugung bestätigt. Unter dem triumphierenden Motto »Fukushima ist überall!« planten die AKW-Gegner bundesweit sofort etliche Mahnwachen. Renate Künast, Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen, sprach ihnen aus dem Herzen: »Nicht wir beherrschen die Natur, sondern die Natur beherrscht uns!«. Jürgen Kasek, Leipziger Grüner und Mitglied des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), wiederholte den Satz in seinem Schlusswort zur Demo »25 Jahre Tschernobyl« und erläuterte im Anschluss: »All die Katastrophen und Opfer sind ein Zeichen dafür, dass der Mensch maßlos ist. Maßlos in seinem Streben«. Das sinnlose Leid der Katastrophenopfer deuteten die Grünen zum mahnenden Zeichen der Natur um und verliehen mit routiniert demagogischem Tremolo ihren politischen Forderungen Gewicht.
Ende März, zwei Wochen nach dem Atomunfall, wurde in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. Und viele Wähler ließen sich vom grünen Menetekel beeindrucken. Sogar Peter Altmaier von der CDU beschrieb noch am Wahlabend die Ursache für die Niederlage seiner Partei treffender, als ihm wohl selbst bewusst war: »Ich glaube, dass die Ereignisse in Japan die Landschaft durcheinandergewirbelt haben«. Die Verwandlung der tödlichen Flutwelle in eine grüne Polit-Welle war abgeschlossen, die verwüstete Landschaft zur politischen Allegorie mutiert.
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